Birkenstock oder Crocs?
Bei dieser Frage hat der Argentinier eine ganz klare Präferenz. Also wenn überhaupt dann Crocs! Crocs sind in, Birkenstocks total out! Mit Crocs kommen die Kinder eigentlich schon auf die Welt, wohingegen Birkenstocks als ausgesprochen hässlich angesehen werden und das absolute Ausländer-Erkennungszeichen sind. Hier tragen Mann und Frau eigentlich nur Havaianas, Plastik-Flipflops, zumindest auf’m Land. In der Stadt sieht man eher Plateausandalen oder Turnschuhe. Neben dem äußeren Merkmal Schuhwerk fällt man in Argentinien allerdings auch mit seiner sehr ungewöhnlichen Aussprache auf. Wer nicht das typische sch anstelle des j beim spanischen Doppel-L ausspricht, der enttarnt sich als
Europäer, auch nach jahrelangem fleißigen Castellano-Studium. Wer hier herkommt und denkt, die Landessprache sofort sprechen zu können, der hat sich gewaltig geirrt! Plötzlich steht man in einer Bäckerei und versteht bei der Bestellung eines Brötchens die Welt nicht mehr. Das ist normal! Es gilt als allgemeinhin bekanntes Problem. Ich würde beinahe schon behaupten, ich habe hier als Spanisch-Greenhorn einen Vorteil, weil ich mein sensibles Öhrchen erst gar nicht umgewöhnen muss, sondern sogleich mit den ganzen sch’s, ch’s, ch’s (ja das wird unterschiedlich ausgesprochen), k’s und s’s konfrontiert werde. Und konfrontiert wird man hier überall! Kaum tritt man vor die Tür, da wird man schon angequatscht. Es vergeht keine Fahrt in der Subte (der argentinischen Metro), in der nicht mindestens drei Personen etwas wissen möchten oder etwas zu berichten haben, kein Spaziergang, an dem dich nicht irgendwelche Menschen nach dem Weg fragen und auch keine Taxifahrt, in der der Fahrer nicht mit Geschichten der vergangenen Fahrten, mit Beschreibungen der momentanen Verkehrslage und mindestens drei oder vier Umgehungsmöglichkeiten eventueller Baustellen und aktueller Staus oder einem Abriss in argentinischer Geschichte um die Ecke kommt. Götz’ erste Taxifahrt handelte von (ja, das hab ich mir ein bisschen angewöhnt zu sagen, denn es ist immer eine kleine Geschichte, der man lauscht) Korruption bestimmter politischer Familien in den letzten hundert Jahren. Die Fahrt ging knapp 12 Minuten, aber der Taxifahrer hatte alles wunderbar getimet! Jeder, der irgendwie Angst vor mündlichen Prüfungen hat, sollte in Buenos Aires mal Taxi fahren! Hier wird einem auf perfekte Weise vorgeführt, wie man es schaffen kann, den zeitlichen Rahmen seines Vortrages einzuhalten und innerhalb von zehn Minuten das nationale Dilemma im Speziellen und das der Welt im Allgemeinen zu erklären.
Uber fahren ist in Buenos Aires auch im Aufwärtstrend. Die Rechtslage ist zwar noch nicht zu hundert Prozent geklärt, es wird jedoch oft genutzt und auch ich habe es ebenfalls dann und wann für meinen Schulweg in Anspruch genommen, weil es so verführerisch billig ist. Ähnlich wie im Taxi trifft man hier die buntesten und wildesten Gestalten der argentinischen Großstadt und es ist ganz normal, dass es in der „hora pica“ zu heftigsten Wortgefechten zwischen Motorradfahrern und Autofahrern kommt, dass Fahrradfahrer wild gestikulierend über rote Ampeln zischen und Fußgänger angefahren werden oder gegen die Autos rennen, um sich ihren Platz zu verschaffen. Ein deutscher Journalist und Schriftsteller hat mal geschrieben, der Straßenverkehr in Buenos Aires ähnele einem Bürgerkrieg auf vier Rädern. Joah! Aber wenn ich dann so auf einer der großen Straßen des „südamerikanischen Paris“ entlangrausche, einen Vortrag meines Fahrers über den hijo de puta del presidente anhöre, der sich zur selben Zeit pflichtbewusst bekreuzigt, wenn wir an einer Kirche vorbeikommen, uns hupend und gestikulierend durch das morgendliche Chaos befördert und wir dabei die Sonne am Ende der mit den weitläufigen Gebäudevierteln gesäumten Straßen aufgehen sehen, dann hat diese Fahrt trotz des Trubels etwas unheimlich romantisches, ja, fast schon meditatives.
Die Hektik Buenos Aires ist allerdings nicht im geringsten auf das restliche Argentinien übertragbar. Während man in Buenos Aires das Gefühl hat, dass die Stadt niemals schläft, hat man auf dem Land manchmal das Gefühl, dass alles schläft. Und das ist so, weil es so ist. Ihrem eigentlichen Wesen nach sind die Argentinier nämlich wahnsinnig gemütlich. Zwischen 13 und 18 Uhr ist Siesta, komme was wolle. Und danach weiß man eigentlich nie so genau, ob manche Läden wieder aufmachen oder doch bis morgen früh damit warten. In den Abendstunden kehrt jedenfalls wieder das Leben auf den Straßen zurück, gemütlich schlendernde Menschen mit Thermoskanne unterm Arm und Matebecher in der Hand flanieren umher und unterhalten sich. Alte Männer begrüßen sich im Vorbeigehen mit mi amor, Zeit für einen Beso ist immer. Zeit für nette Worte auch und Zeit für Mate. Ob man sich kennt oder nicht ist egal. Beim Mate ist man gleich, das heilige Zeremonium wird mit Freuden geteilt, dazu irgendetwas Süßes. Oh, wie süß die Argentinier sind. Mit ihrer Eisproduktion können sie absolut mit den Italienern mithalten und Dulce de leche ist das Nationalgericht und wird immer serviert: Morgens, mittags, nachmittags, abends, nachts, zwischendurch, pur, mit Flan, im Teilchen, auf dem Brot, im Pfannkuchen, wieauchimmer. Und Mate ist auch Alles in Einem: ein Getränk, das Kraut an sich, der Becher, der Konsum, die Zeremonie, das Ritual, kulturelles und historisches Symbol in Erinnerung an die Gauchos.
Mate trinkt man zum Zeitvertreib, Mate trinkt man wenn Zeit ist, Mate zu trinken, Mate trinkt man zum Kennenlernen, Mate trinkt man beim Autofahren, Mate trinkt man auf der Arbeit und Mate trinkt man bei Treffen jeglicher Art. Und Mate schmeckt! Während der heiligen Prozedur gilt es, gewisse Regeln einzuhalten, sonst ist der Umtrunk schnell vorbei. Wir als Neulinge in der argentinischen Kultur haben das natürlich direkt beim allerersten Mal bemerkt. Was kann man nicht alles falsch machen. Den mate falsch annehmen, den Strohhalm mit der Hand festhalten (absolutes Nogo), mit dem Strohhalm dann auch noch im Tee rumrühren, das grenzt an Gotteslästerung und wenn man sich bedankt, wenn man den leergetrunkenen Becher wieder an den „Mate-Führer“ (die Person, die den Mate zubereitet, den leergetrunkenen Becher wieder auffüllt und der nächsten Person weiterreicht) zurückgibt. Gracias sagen darf man beim Mate erst, wenn man wirklich nichts mehr will, denn sonst bekommt man einfach nichts mehr. Die Thermoskanne wird auch nur im äußersten Notfall an eine andere Person weitergereicht, damit diese die Mate-Zeremonie übernehmen kann. Der Normalfall sieht jedoch vor, dass sie immer bei derjenigen Person bleibt, die den Mate vorbereitet hat und die solange Wasser nachschenkt, bis Niemand mehr möchte. Mate kann ganz unterschiedlich schmecken. Die einen mögen’s süß, die anderen bitter. Wir haben natürlich alle erdenklichen Fehler gemacht, die man als Anfänger machen kann. Ich hab sogar beim allerersten Mal nach den anderen Teegläsern gefragt... Das war übel! Das ist mir ja jetzt auch schon peinlich das nur aufzuschreiben. Aber danach beherrscht man’s dann eben! Und so stolpert man dann ganz schnell durch Argentinien und trinkt im nullkommanix mit Fremden Mate. Ob man Spanisch spricht oder nicht ist egal, im Mate sind alle gleich und die Argentinier reden ohnehin am allerliebsten selbst.
Hier grüßen einen auch alle Leutchen gleich mit Küsschen und nennen dich liebevoll amiga, boluda oder puta. Dass das eine nicht das andere ist, ist egal. Auf den Tonfall kommt es an! Die Beschimpfungskultur ist in Argentinien äußerst beliebt, die phantasievolle Rede Sprachkultur. Menschen in Anzug oder Kostümchen rufen laut „bei der Fotze deiner Mutter“ aus, wenn sie etwas erstaunt oder erzürnt. Die Autofahrer auf den Straßen schimpfen Andáte a la mierda und „die Hure der Mutter die dich geboren hat“ ist ein Klassiker (La puta que te parió). Das argentinische Wort für schimpfen oder fluchen heißt nicht etwa „maldecir“ sondern „putear“, es ist die direkte Ableitung von puta. Erste Stunde Spanisch!
Ja, der Argentiner ist gut im Schimpfen! Aber er ist auch sehr gut im Hochstapeln und auch im Tiefstapeln. Er redet immer vom Allerbesten oder Allerfurchtbarsten der Welt! Die Argentiner haben das allerallerallerallertollste Land und haben gleichzeitig das allerallerallerschwierigste Leben. Hier gibts den höchsten Fleischkonsum, die weltbesten Steaks und die allermeisten Superlative zur Selbstbeschreibung. Argentinien hat die besten Fußballer der Welt, das allerschönste Tor in der Geschichte des Fußballs, aber das allergrößte denkbare Pech im Elfmeterschießen 2006. Freud und Leid gehört zusammen und Leid und Schmerz, was in Buenos Aires durch den Tango ausgedrückt und auch so verkauft wird, haben alle Argentiner schon erfahren. Spätestens mit dem Staatsbankrott von 2001 war das wohl wirklich so.
Heute sprechen die Argentiner von einer potentiellen Weltmacht im Konjunktiv. HätteHätteFahrradkette... Bis zu Beginn des letzten Jahrhunderts war dieses Land ja sogar Weltmacht, unzweifelhaft! Doch was ist jetzt? Pathos und Melodrama scheinen die einzigen angemessenen Gefühlslagen in Argentinien zu sein, denn es ist alles kompliziert! Doch die Menschen wissen sich zu helfen, sie haben in ihren Leben schon so manche finanzielle, wirtschaftliche und politische Krise miterlebt, meistens sogar noch die Militärdiktatur. In Politik, Geld und Kirche wird hier wenig bis gar nicht mehr vertraut, dafür aber umso mehr in das eigene Vermögen, die Dinge selber in die Hand zu nehmen. Jeder entwickelt hier seine Wege und Taktiken, man tauscht sich gegenseitig aus und diskutiert. Vertrauen ist gut, aber nicht zwingend. Das Land hat so viele Reize und Potentiale, darüber ist man sich einig. Und wenn man sich über irgendetwas uneinig ist, dann diskutiert man es beim Mate. Die Argentiner sind freundlich in ihrem Wesen, sie sind neugierig, hilfsbereit, aufmerksam, gesprächig und heiter. Die Leute hier lieben den Austausch und sie lieben das Leben. Spätestens beim Fußball sind sich wirklich alle einig, wenn ein Spiel der Nationalmannschaft auf dem Tagesplan steht. Und dann gibt es schließlich noch die Nationalhelden Argentiniens, die sie miteinander vereinigen, allen voran Diego Maradonna und Che Guevara. Ich werd demnächst noch einen Blogartikel über die anderen Helden verfassen, aber ich bin ja auch gerade erst angekommen, in dem Land, das die Farbe seines Himmels auf die Flagge gedruckt hat.